Freitag, Dezember 23, 2005
Über Lust und Tugend
aus dem Buch nichomachische Ethik von Aristoteles
Alles Lebendige begehrt nach der Lust, wie es auch nach dem Sein, dem Leben und der Tätigkeit begehrt. Die Tätigkeit ist nämlich die Vollendung des Lebens und des Seins, und darum ist sie mit Lust verbunden, weil jedes Wesen sich seiner natürlichen Vollendung freut. Die Lust begleitet die Tätigkeit und folgt aus ihr; sie erleichtert aber auch die Tätigkeit, steigert und vollendet sie. Wie die Tätigkeit, so ist die Lust. Sie ist um so größer, je vollkommener die Tätigkeit ist, und diese ist wieder um so vollkommener, je besser ihr Objekt und in je besserer Verfassung die tätige Potenz ist. Die Lust ist auch um so reiner, je weiter das Tätige oder sein Vermögen von der Materialität entfernt ist. Nun hat jedes lebendige Wesen seine eigentümliche Lust, weil jedes seine eigentümliche Tätigkeit hat. So wird auch die eigentümlich menschliche Lust in der eigentümlich menschlichen Tätigkeit liegen, und das ist das Denken. Sie heißt nicht mehr einfach Lust, sondern Glückseligkeit. Sie ist unter allen Lüsten die reinste, weil immateriell und geistig, und ist für den Einzelnen um so größer, je vollkommener sich in ihm das Leben des Geistes entfaltet hat. Jede tugendgemäße Tätigkeit beglückt den Menschen, weil jede Tugend am Geistigen teil hat. Sie ist entweder Verstandestugend oder doch Tugend des Willens, der am Verstande teil hat, indem er ihm gehorcht. Am meisten aber beglückt die Tätigkeit gemäß der Tugend der Weisheit, eine Tätigkeit, die in Erforschung und Betrachtung der ewigen Wahrheiten besteht. Sie gehört dem vernünftigen Seelenteile als solchem an, nicht blos insofern die Seele, wie im Willen, an der Vernunft teil hat; und sie hat zum Gegenstand das Beste, das wesentlich Gute und Göttliche. Diese Tätigkeit des Denkens und der Betrachtung ist darum die eigentliche Bestimmung des Menschen; sie gibt ihm wahre Befriedigung und bringt sein Begehren und Streben zur Ruhe. Sie ist auch das Staatsziel, insofern alle Wohltaten, die wir von dem Staate erwarten, Friede, Ruhe, Sicherheit und Wohlstand, es uns möglich machen, dem Leben des Geistes obzuliegen.
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